
TOMAS ERHART - DECONSTRUCTIVE NUDES
Unter dem Titel 'Deconstructive Nudes' präsentiert die Hamburger
Agentur Inner Circle Consultants ab dem 12. Juni 2012 neue Werke des
Berliner Fotokünstlers Tomas Erhart. Gezeigt werden zehn
großformatige Fotoarbeiten sowie sieben sequentielle Werke; alle in der
Tradition seines ersten digitalen Fotoprojektes „5PM“.
„Wie gern wüssten wir, was morgen sein wird! Vielleicht sehen wir es auf
diesen Fotos,die so sehr von heute sind. Zum Beispiel, wie traurig wir
sind, dass wir gestern, als heute war, versuchten, glücklich zu sein. Dass
wir die Nähe zu jemandem andern im Sex suchten und fanden und gleich
wieder verloren. Was wird also morgen sein? Die Erinnerung und eine
neue Hoffnung – und die schönen, poetischen, melancholischen
Bilder von Tomas Erhart“. (MAXIM BILLER, Schriftsteller)
Bereits 2009 hatte Tomas Erhart die Berliner Kunstszene begeistert und
bewegt: Mit "CellPhonology" schuf er ein neues Genre, die „mobile
diaries“. Als einer der ersten weltweit dokumentierte Erhart – lediglich
mit einer simplen Handykamera bewaffnet – die vielen Facetten seines
bewegten Lebens. Das strikte Konzept des Projekts war der Verzicht auf
jegliche Inszenierung: Reisen, Begegnungen, intime Momente, ebenso
wie Portraits von sich und anderen hielt er für die „CellPhonology“-Serie
in tausenden authentischen Aufnahmen fest.
Eine ähnliche Dynamik, jedoch geprägt von erhöhter Sinnlichkeit und
sexuellem Inhalt, zeichnen die Arbeiten in Erharts neuer Serie
'Deconstructive Nudes' aus. Es ist eine intensive Entdeckungsreise,
auf die uns der Künstler einlädt: Endstation Sehnsucht. Und
Leidenschaft.
In verstörenden Bildkompositionen verschmelzen Gegenstände und
Personen in einer ganz eigenen malerischen Ordnung im Raum. Farben
verwischen. Formen überblenden.
Die Abbildungen nackter Körper, deren Posen man teils nur erahnt, teils
erst nach längerem Betrachten erkennt, erinnern an die Bilderwelten
eines David Hamilton; die Motive in ihrer Brisanz an die eines Terry
Richardson.
Tomas Erhart, Jahrgang 1964, ist seit über 20 Jahren erfolgreich als
Spielfilm- Kameramann tätig. Seine Credits umfassen mehr als 60 Filme
mit Regisseuren wie Oskar Röhler und Volker Schlöndorff.
In der ihm eigenen „ästhetischen Vermählung von Einzeleinstellungen
und laufenden Bildern“ (Uwe Goldstein) verbindet Erhart zwei
wesentliche Aspekte des Filmemachens und transformiert seine
jahrzehntelange Erfahrung als preisgekrönter Kameramann in
das Medium Fotografie. Während sich der Betrachter zwangsläufig in
einen Voyeur verwandelt, provoziert und lockt der Künstler und setzt die
üblichen Sehgewohnheiten außer Kraft. So gelingt Tomas Erhart mit
seinen 'Deconstructive Nudes' eine raffinierte wie erfrischend neue
Interpretation des klassischen Akts.
INTERVIEW LINDA-LUISE BICKENBACH
„Ich erzähle lieber Geschichten“
Die Ausstellung „Deconstructive Nudes“ zeigt unveröffentlichte
Fotografien von Tomas Erhart aus den Jahren 2000 bis 2010. Ein
Gespräch über veränderte Blickwinkel, sexuelle Freiheit und das
Geheimnis von Unschärfe.
Herr Erhart, die ausgestellten Arbeiten sind mit einer einfachen
Digitalkamera fotografiert. Warum?
Vor 15 Jahren habe ich meine erste Canon IXUS gekauft, ursprünglich,
um auf Motivbesichtigungen Fotos zu machen. Ich habe schnell ihre
Möglichkeiten entdeckt, besonders die extremen: Weil ich keinen Blitz
mag, wollte ich wissen was passiert, wenn ich ein Bild drei Sekunden
lang belichte. Das konnte die IXUS schon damals. Dadurch entwickelte
sich meine Affinität zu den Bewegungsunschärfen.
Sind Ihre Fotos Momentaufnahmen oder inszeniert?
Meine Bilder sind abhängig von der Situation, in der sie entstehen:
Momentaufnahmen aus ihrer eigenen authentischen Dynamik. Man kann
Fotografien wie diese nicht als Stillleben inszenieren. Sie würden ihre
Authentizität verlieren. Wie die Bilder aus der Kamera kommen, hängen
sie später auch an der Wand. Inszenierte Erotik, die man aus
einschlägigen Männermagazinen kennt, finde ich furchtbar. Ich will meine
Modelle nicht in Posen zwingen.
Wer sind die Frauen auf Ihren Bildern?
Die meisten gehören zu meinem erweiterten Bekanntenkreis. Berlin ist
momentan die liberalste Stadt der Welt. Überall begegnet man Nacktheit
und Sexualität. Modelle zu finden war einfach, weil die Menschen in
Berlin freier leben als anderswo – auch sexuell freier.
Zwischen Ende der 1990er und 2010 haben Sie mit Ihrer Digitalkamera
über 20.000 Fotos gemacht. Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder
für Ihre Ausstellung ausgewählt?
Alle gezeigten Bilder sind Teil meines langjährigen Fotoprojekts „5 pm“.
Die Fotos sind im wilden Berlin der 2000er Jahre entstanden. Um eine
Auswahl zu treffen, habe ich mein digitales Archiv geöffnet und komplett
neu gesichtet. Es war eine Entdeckungsreise zu meinen Ursprüngen. Zu
Beginn meiner fotografischen Arbeit hatte ich einen anderen Ansatz:
Provokanter, direkter, eindeutiger. Damals war das richtig. Doch heute,
aus der Distanz, gefallen mir Aufnahmen, die ich vor ein paar Jahren
kaum beachtet hätte.
Sie sind in einem Bergdorf im tief katholischen Bayern aufgewachsen,
haben Abitur an einer Klosterschule gemacht. Vielleicht ein Grund,
warum Nacktheit und Sexualität ein großes Thema sind?
Man kann seine Biografie nicht abschütteln. Wenn man so katholisch
verwurzelt aufwächst wie ich, bleibt etwas hängen – auch wenn ich
gleich nach dem Abitur nach Los Angeles gegangen bin, um Film zu
studieren. Der Umzug nach Berlin Ende der 1990er war nochmals eine
radikale Zäsur. Daraus sind diese Motive entstanden. Als plötzlich Leute
aus meinem Freundeskreis auf mich zukamen, und sagten: „Mensch, die
Bilder musst du doch jemandem zeigen!“, war das ein Riesenschritt für
mich. Vor meiner ersten Ausstellung 2004 habe ich fast ein halbes Jahr
überlegt, ob ich das wirklich will. Die Fotos waren ungeheuer persönlich
für mich. Heute ist das anders. Mit der Distanz habe ich einen rein
künstlerischen Blick auf die Arbeiten entwickelt.
Zusätzlich zu den Großaufnahmen zeigen Sie unter dem Titel
„Sequenzen“ erstmals Bilder, die Sie per Photoshop zusammensetzen.
Wie kam es dazu?
Vor einigen Jahren habe ich mich zeitweilig mit einem einzigen Motiv
beschäftigt und es mindestens hundert Mal fotografiert. Anschließend
habe ich die einzelnen Bilder per Hand ausgeschnitten und
aneinandergeklebt. Diese Collagen wollte ich abfotografieren, um neue
Bilder daraus zu machen. Allerdings war der Qualitätsverlust ziemlich
hoch. Deshalb habe ich angefangen, mich mit Photoshop auseinanderzusetzen.
Das Erlebnis war genau wie damals, als ich meine erste digitale
Kamera in der Hand hatte: Eine andere Welt hat sich aufgetan.
So habe ich das Prinzip der Collage neu für mich definiert. Einerseits
komponiere ich die „Sequenzen“-Bilder nebeneinander, damit sie etwas
Serielles bekommen, andererseits kombiniere ich sie übereinander.
Indem ich zwei transparente Dias übereinander schiebe, ergibt sich ein
Bild, das weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun hat.
In den „Sequenzen“ hebt sich das Sexuelle beinahe auf, obwohl die
bekannten Motive zugrunde liegen...
Mich interessiert das Spiel mit der veränderten Bildwahrnehmung
desselben Motivs. Bei „Deconstructive Nudes“ geht es um die Spannung
zwischen Nähe und Distanz. Ich merke, wie ich mich künstlerisch
wegentwickele vom Naturalistischen, hin zum Expressionistischen, zu
Farben, Formen und Strukturen, hinter denen sich nur eine Ahnung
verbirgt. Auch einige der Großaufnahmen sind so abstrakt, dass sie dem
Betrachter lediglich ein Gefühl vermitteln. Erst in Kombination mit den
eindeutigeren Motiven entsteht eine Geschichte im Kopf. Es reizt mich,
die Fantasie zu füttern, um im Abstrakten das Verborgene zu suchen.
Wie wichtig ist Ihnen der formale Aspekt Ihrer Arbeit?
Ich bin absoluter Formalist. Ich denke konzeptuell. Doch wenn ich mir
erst einmal einen Rahmen geschaffen habe, innerhalb dessen ich mich
künstlerisch bewege, arbeite ich frei und intuitiv.
Als Kameramann haben Sie national und international Karriere gemacht.
Gibt es einen Bezug zwischen Ihrer Arbeit beim Film und Ihrer Arbeit als
Künstler?
Mit 14 Jahren habe ich mir zur Firmung einen Fotoapparat gewünscht
und bis Mitte 20 fotografiert wie ein Berserker. Als ich dann im
Filmgeschäft erfolgreich wurde, habe ich mich ebenso intensiv in meine
Arbeit als Kameramann gestürzt, sehr ernsthaft und sehr ausschließlich.
Eine Gemeinsamkeit gibt es vielleicht: Wenn man einen Film dreht, und
sich einen 35-mm-Filmstreifen anschaut, sind die Einzelbilder unscharf,
obwohl der laufende Film scharf aussieht. Darin besteht eine Parallele zu
meinen Fotos. Auch mit der Fotografie erzähle ich lieber Geschichten, als
dass ich Einzelbilder machen will. Meine Bilder sollen eine Dynamik in
sich tragen, sowohl in der temporären Ebene als auch in der realen
physischen Bewegung. Ich mag Unschärfe in allem. Und ich glaube an
die Magie der Fantasie.
Interview: Linda-Luise Bickenbach, 2012